Inversion of Control
Auf der Search Central LIVE in Zürich hat Nikola Todorovic an drei einfache, aber unbequeme Fragen erinnert:
„Is it good for users?“
„What does good mean?“
„How do you measure what’s good?“
Eigentlich Grundrauschen. Praktisch oft vergessen.
Denn sobald ein Core Update ausrollt und die Kurven zucken, setzt ein anderes Ritual ein: das große Reverse-Engineering. Wir sezieren Gewinner und Verlierer, zählen Wörter, messen Keyword-Dichten und suchen nach der mathematischen Formel hinter dem Ranking. Wir suchen die Antwort auf „How do you measure it“ – aber im Datenfriedhof von gestern, nicht in der Realität der Nutzer.
Die These dieses Textes ist unbequem einfach:
Der Versuch, den Algorithmus logisch zu lösen, ist ein Kampf gegen die Zeit.
Ein Hamsterrad. Rückwärts.
Wir optimieren Metriken auf Grün – und wundern uns über qualitativ ausblutenden Traffic.
Es wird Zeit, einen Schritt zurückzumachen.
Weg vom Reverse-(Over-)Engineering von Symptomen. Hin zum Verstehen von Ursachen.
TL;DR – Die wichtigsten Punkte
- Die Reverse-Engineering-Falle: Historische Daten taugen nicht mehr als Kompass. Google testet und ändert zu schnell.
- Goodharts Gesetz: Wer Proxies zum Ziel macht, verliert das Ziel. Metriken sind Diagnose, nicht Richtung.
- Enabler vs. Hacker: Technisches SEO ist Handwerk. Inhaltliche Relevanz technisch zu „hacken“ ist Selbstbetrug.
- Der Daten-Pivot: Statt Konkurrenz-Inzucht brauchen wir echte Nutzer-Daten: CRM, Sales, NPS.
- Inversion of Control: Jag nicht die Metrik. Bau etwas, das die Metrik jagt.
Das Proxy-Dilemma: Wenn der Spiegel wichtiger wird als das Objekt
Das erste Problem: die Datenbasis.
Google schraubt über 1.000 Mal pro Jahr an Ranking-Mechaniken. Sobald wir Daten sammeln, um einen vermeintlichen Faktor zu „beweisen“, ist die Grundlage oft schon veraltet.
Das zweite Problem: der Denkfehler.
Wir optimieren auf Metriken wie Time on Site, Wortanzahl oder Keyword-Dichte. Aber das sind Proxies – Näherungen für ein Ziel, das wir nicht direkt messen können.
Und hier greift Goodharts Gesetz gnadenlos:
Sobald ein Maß zum Ziel wird, hört es auf, ein gutes Maß zu sein.
Wenn wir Inhalte auf „Time on Site“ optimisieren, produzieren wir nicht bessere Inhalte. Wir produzieren längere Scrollwege, verwirrende UX oder Textwüsten.
Wir polieren den Spiegel statt das Objekt, das darin sichtbar werden soll.
Enabler vs. Hacker: Eine Frage der Haltung
Sollten wir die Technik ignorieren? Natürlich nicht.
Aber wir müssen sauber unterscheiden.
1. Der Enabler – (Infra-)Struktur
Rendering, Crawlbarkeit, Schema, interne Verlinkung. Das ist Handwerk, kein Trick.
Wir müssen verstehen, wie Google Inhalte parst (Stichwort Entity Saliency), damit Substanz maschinenlesbar wird.
Prinzip: Form follows Function.
Guter Inhalt bekommt die Struktur, die er verdient.
2. Der Hacker – Inhalt & Ausrichtung
Hier wird versucht, Relevanz zu simulieren.
Durch Keyword-Tetris, künstlich gestreckte Texte oder Claims ohne Substanz.
Prinzip: Function follows Form.
Wir bauen Fassaden, die keinen Innenraum haben.
Technisches SEO ermöglicht Ranking.
Aber es verdient kein Ranking.
Wer Wert vortäuscht, zahlt später – meist in Sichtbarkeit.
Der Ausweg aus dem inzestuösen Kreis
Also: Wenn wir nicht den Algorithmus nachbauen – woran orientieren wir uns?
Die klassische Antwort wäre: „Schau auf die Nummer 1 und mach’s etwas besser.“
Genau das ist die Falle.
Konkurrenz als alleinige Benchmark produziert Inzest.
Ein Einheitsbrei aus mittelmäßigem Content, der sich selbst reproduziert.
Echtes organisches Wachstum entsteht nicht durch Imitation, sondern durch Überwindung des Status quo.
Wir brauchen einen Daten-Pivot – weg von algorithmischen Proxies, hin zu echter Nutzerrealität:
- Was steht in den CRM-Logs?
- Was fragt der Kunde im Sales-Call?
- Was zeigt der NPS über Erwartungen und Enttäuschungen?
Diese Daten sind unordentlicher, aber ehrlicher.
Und – anders als einzelne Metriken – zeitstabil.
Ein echtes Kundenproblem bleibt ein echtes Kundenproblem, auch nach 20 Core Updates.
Billiger Content, der nur Proxies bedient, ist keine Ersparnis.
Er ist technische Schuld.
Und das Inkasso kommt zuverlässig.
Fazit: Inversion of Control
Die Lösung liegt im Blickwechsel.
Hör auf, die Metrik zu jagen. Lass die Metrik dich jagen.
Wenn Inhalt, Kontext und Format das reale Bedürfnis treffen, folgen die Proxy-Metriken automatisch: Dwell Time, CTR, Shares.
Nicht andersherum.
Oft entsteht der entscheidende Mehrwert erst in der Darreichungsform:
die interaktive Tabelle für den schnellen Vergleich,
das Video für die komplexe Anleitung,
nicht der längste Textblock.
Wenn der Inhalt Substanz hat, wird er gefunden.
Wenn er hilft, wird er behalten.
Wenn er präzise ist, wird er geteilt.
Es ist Zeit, vom Rücksitz ans Steuer zu wechseln.
Nicht indem wir den Motor (den Algorithmus) nachbauen,
sondern indem wir wieder auf die Straße schauen: den Nutzer.
Mit ohne Over-Engineering.
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